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Elf Porträts beschreiben den modernen Fußball

Es gibt ihn also doch noch. Den Typ Trainer, der raucht, flucht, sich einen Dreck um Medientauglichkeit und „Political Correctness“ schert und der sich dennoch erfolgreich im heutigen Fußballgeschäft bewegt. Und das ist nur eine von vielen erfreulichen Erkenntnissen, die „Die Zeit der Strategen“ vermittelt, das neue Buch von Tobias Escher. Dem Mitbegründer des führenden deutschen Taktikblogs „spielverlagerung.de“ ist das geglückt, was ihm, dem Pinup-Boy der teutonischen Analysenerds, wohl die wenigsten zugetraut hätten: Er liefert auf nicht einmal 300 Seiten lebendige Porträts von elf Trainerpersönlichkeiten der Gegenwart und erklärt ganz nebenbei auch noch Grundzüge und „State of the Art“ des Fußballs im  fortschreitenden 21. Jahrhunderts. Die ideale Fußballlektüre, um die Sommerpause zu überbrücken, auch und gerade für Anhänger künftiger Drittligisten.

„Für mich ist Schönheit, dem Gegner nicht zu geben, was er will. Es gibt viele Dichter im Fußball, aber die gewinnen keine Titel.“ Kann mit einem solchen Zitat ein Fußballbuch beginnen, das Spaß macht? Es kann. Erst recht, wenn es sich anbietet. Escher startet seine Porträtsammlung mit José Mourinho, und zu dem passt dieses Zitat nun einmal wie Buck zu Ratinho.

Auch aus chronologischen Gründen macht es Sinn, mit dem „Special One“ zu beginnen. Denn Mourinho ist – oder muss hier vielleicht schon „war“ stehen? – der erste bedeutende der Trainergeneration, die in „Die Zeit der Strategen“ behandelt wird. Der ersten nämlich nach Johan Cruyff und Arrigo Sacchi, den beiden Übungsleitern der 1990er Jahre, die den heutigen Spitzenfußball wohl am nachhaltigsten geprägt haben.

EIN JOCKEY MUSS JA AUCH NICHT PFERD GEWESEN SEIN… 

Ihre Namen tauchen in fast allen Escher-Porträts auf, und sie stehen auch gewissermaßen für zwei Pole, die sich in den folgenden Personenbeschreibungen ebenfalls immer wieder finden: Auf der einen Seite Trainer wie Cruyff, die selbst auf hohem Niveau Fußball spielten und daraus einen großen Teil der Autorität beziehen, die sie bei ihren Spielern genießen. Auf der anderen Seite die, deren aktiven Karrieren früh scheiterten oder im Sande verliefen und die sich über intensives Fußballstudium und über den Jugendbereich profilierten, ganz im Sinne des unvergessenen Sacchi-Ausspruchs, ein guter Jockey müsse zuvor ja auch nicht unbedingt Pferd gewesen sein.

Interessant: Die porträtierten Übungsleiter, die keine Glanzzeiten als Aktive vorweisen können, sind in Eschers Auswahl deutlich in der Überzahl.

VON MOURINHO, DER NICHT NUR EIN KOTZBROCKEN IST, ZU PEP, DEM KLASSENPRIMUS 

Der Einstieg mit Mourinho zeigt auch deutlich, wie differenziert der Autor seine Personenbeschreibungen angeht. Denn der Portugiese kommt keinesfalls nur als der Kotzbrocken rüber, als den ihn der gemeine Fußballfan wahrnimmt. Escher legt viel mehr dar, dass Mourinhos arrogante Selbstinszenierungen nichts anderes als Kalkül sind, mit dem er die Bande zu seinem Team stärken will. Seine permanenten Klagen, nicht verstanden und falsch oder unfair gesehen zu werden, sollen ein Wir-gegen-den-Rest-der-Welt-Gefühl erzeugen, das sich erfolgsfördernd auswirkt.

Als ein einschneidendes Ereignis in Mourinhos Biographie schildert Escher dessen gescheiterte Bewerbung auf die Cheftrainerstelle beim FC Barcelona im Jahr 2008, bei dem er auch seine Lehrjahre als Assistenzcoach verbracht hatte. Niemand geringerer als Johan Cruyff lehnte ihn ab. Der Niederländer wirkte seinerzeit als Berater bei den Katalanen und präferierte Pep Guardiola, dem folgerichtig das zweite Porträt in „Die Zeit der Strategen“ gewidmet ist.

MARCELO BIELSA: DER MEISTER YODA PEPS UND VIELER ANDERER 

Guardiola wiederum ist der Klassenprimus seiner Generation, der Inspirator, der, bei dem alle mehr oder weniger abschreiben. Allerdings übernehmen die besten seiner Mitschüler nur bestimmte Elemente von ihm und kultivieren sie auf ihre eigene Art: Jürgen Klopp etwa das Gegenpressing, Thomas Tuchel die Auflösung eindeutiger Grundformationen. Drum gehören die beiden ehemaligen Mainzer ebenfalls zu Eschers auserwählten Elf.

Doch Guardiola hat neben Cruyff noch einen weiteren Lehrmeister: Marcelo Bielsa. Ein Argentinier, der dem gemeinen Fußballfan in Europa kaum bekannt ist, der jedoch eine Art Meister Yoda nicht nur für Guardiola, sondern auch für Diego Simeone, Mauricio Pochettino oder Jorge Sampaoli darstellt. Obwohl er auf nicht sehr viele Erfolge verweisen kann und fast ausschließlich in Argentinien, Mexiko und Chile wirkte.

Ihn zitiert Escher mit einem Ausspruch, der Mourinhos einleitenden Satz am treffendsten widerlegt: „Wer schönen Fußball für das Ergebnis opfert, den sollte man meiner Meinung nach foltern. Die Ärmsten unter uns haben nur Fußball zur Entspannung. Ich würde es schrecklich finden, wenn wir ihnen nur Ergebnisse böten.“

MAURIZIO SARRI: NIEMALS DAS KIND IM SPIELER AUSSCHALTEN

Und Escher hat noch eine weitere Biographie in petto, die in Deutschland kaum bekannt ist: die Maurizio Sarris, der in den vergangenen Jahren den SCC Neapel zur zweiten Macht im italienischen Fußball formte und aktuell eine neue Anstellung sucht. Der Sohn eines Kranführers ist ein echter Underdog, hat sich auf dem Stiefel durch sämtliche untere Ligen gecoacht und dabei einen ganz eigenen Stil entwickelt, der sich am ehesten mit „vertikalem Tiki-Taka“ beschreiben lässt, also ein intensives Passspiel, das allerdings steil und flach angelegt ist, als permanentes Passen und Ablegen.

Dies wiederum macht Sarri zu einer Art Verwandten des Neu-Dortmunders Lucien Favre, allerdings nur, was dessen Fußballverständnis, nicht aber den Charakter angeht. Im Gegensatz zum Schweizer Gentleman bevorzugt Sarri noch labbrige Trainingszüge, raucht wie ein Schlot und flucht wie der Bauarbeiter, von dem er abstammt. Nicht einmal vor homophoben Ausbrüchen schreckt er in den todlangweiligen Zeiten der alles umfassenden Political Correctness zurück, etwa vor Sätzen wie „Fußball ist zu einem Sport für Schwuchteln verkommen.“

Darauf reduzieren darf man ihn jedoch nicht, denn auch Sarri kann die Art von Dichter sein, die ein Mourinho ablehnt: „Ich war früher steifer. Ich war eher geneigt zu glauben, dass Taktik ein absoluter Wert sei. Jetzt weiß ich, dass das Kind in den Spielern niemals ausgeschaltet werden darf. Der spielerische Aspekt, der Aspekt, für den Fußball Fußball genannt wird, darf niemals verdrängt werden. Wenn ein Spieler Spaß hat, macht er das Doppelte, und es ist ein wunderbares Spektakel.“

WAS DER FUSSBALL IM 21. JAHRHUNDERT ZU BIETEN HAT 

Was keinesfalls heißt, dass die Taktik zu kurz kommt in „Die Zeit der Strategen“, im Gegenteil. Aus der Persönlichkeit eines Trainers dessen Verständnis von Fußball abzuleiten und zu erklären, ist Eschers Konzept. Entsprechend spannend lesen sich auch alle weiteren Personenbeschreibungen. Und so entsteht gleichzeitig auch ein Bild des Fußballs im 21. Jahrhunderts, der ungleich mehr zu bieten hat als die Wahl zwischen „Umschaltspiel“ und „Ballbesitzfußball“. Den beiden Polen, die bei „Taktik“-Diskussionen in Fanforen oft anmuten, als handele es sich um zwei Religionen, zwischen denen es sich zu entscheiden gelte.

Es gibt unzählige Spielarten dazwischen, von Antonio Conte bis Jogi Löw. Und am Ende seines Buchs widmet sich Escher mit Zinedine Zidane sogar noch einmal einem Trainer, der eigentlich gar nichts Innovatives zur Entwicklung des Ballsports beiträgt, zuletzt aber drei Mal hintereinander die Champions League gewonnen hat und ganz auf seine Autorität als ehemaliger Weltklassespieler setzt. Und der genauso konventionell sein Fußballwissen weitervermittelt: So überzeugte er Cristiano Ronaldo, sich als Freistoßschütze neu zu kalibrieren, indem er ihn im Training in einem eigens anberaumten Freistoßduell besiegte. Auch das gibt es also noch.

MEHR ALS NUR JUNG: NAGELSMANN, DER „TWO-TOUCH“-PROPHET

Welche Variationen der „Ballbesitzfußball“ erfahren kann, macht beispielsweise das Kapitel über Julian Nagelsmann deutlich, der etwa „Two-Touch-“ statt „One-Touch-“ Fußball propagiert – und, dass diagonales Nach-Vorne-Spielen deswegen effektiver sei als vertikales, weil der Stürmer so den Ball niemals mit dem Rücken zum Tor annehmen müsse, sondern den Kasten immer noch mit im Gesichtsfeld habe… Hört, hört.

Auch dem schnellen Umschalten um jeden Preis erteilt der findige Hoffenheimer Trainer, der medial meist nur auf seine Jugend reduziert wird, eine Absage: „Ich bringe von zehn Angriffen lieber acht zum Abschluss, auch wenn es einen Tick länger dauert, als nur zwei zum Abschluss zu bringen, und es geht rasend schnell.“

Eine weitere Erkenntnis, die „Die Zeit der Strategen“ liefert: Diskussionen über Dreier- oder Viererketten, über 4-4-2, 3-5-2 oder 4–3-3, werden im modernen Fußball immer müßiger. Keiner der porträtierten Trainer steht für eine Grundformation, die er irgendwann mal als die beste erkannt und perfektioniert hat, alle haben sie zu variieren gelernt, manche lassen ihre Teams sich sogar während eines Spiels permanent neu formieren.

ERFOLGE RESULTIEREN AUS INTENSIVEM GEGNERSTUDIUM

Ihre Erfolge beziehen sie nicht daraus, indem sie ein eigenes, starres System konsequent durchziehen, sondern, indem sie das Spiel ihrer Mannschaft am Gegner ausrichten, nachdem sie durch intensives Studium dessen Schwachstellen ausgemacht, oder, wie Guardiola es ausdrücken würde, die Räume erkannt haben, die die Spielanlage des Gegners ihnen lässt. Dieser Punkt eint den Katalanen sogar mit seinem großen Widersacher Mourinho. Und erst recht mit Tuchel, der schon in Mainz sein Team die Formation des Gegners einfach „spiegeln“ ließ, um ihm wirkungsvoll zu begegnen.

Und die banalste Erkenntnis zu Schluss: Alle porträtierten Trainer hatten bei ihren Klubs Zeit zur Verfügung, um ihre Handschrift zu entwickeln. Dabei durften sie auch mal Talsohlen durchschreiten, Phasen des Misserfolgs durchstehen, ohne entlassen zu werden. Dennoch hat sich die durchschnittliche Amtszeit eines Trainers im deutschen Profifußball bei gerade mal 1,2 Jahren eingependelt.

Es ist Zeit dazuzulernen – auch für Vereinsführungen, Fans und Medien. Selbst bei frischgebackenen Drittligisten.

erschienen auf "blogvierzwei.de" am 8.6.2018

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