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Über einen Weltmeister, der trinkt wie Kohlmeyer

Ein Mann schiebt sich durch den Regen, unter einem Himmel, der aussieht „wie das verweinte Gesicht eines alten Mannes.“ Schon kommen die Erinnerungen hoch, an damals, „an Spiez, an Bern, an Wankdorf“, wo sich Ungeheuerliches zugetragen hat: „Das Unfassbare hatte Gestalt angenommen, keiner wankt, keiner wankt, er aber hatte gewankt, nach dem Spiel, danach erst, nach dem entfesselten Traum, erst danach, keine Sekunde vorher, erst danach.“

Wer nur ein klein wenig mit deutscher Fußballgeschichte vertraut ist, mit deutscher Geschichte überhaupt, weiß da schon, hier geht es offenbar ums „Wunder um Bern“, um die Fußballweltmeiserschaft von 1954, und wer nur klein wenig mit den Legenden der Helden von damals vertraut ist, erst recht mit denen der fünf lauteren Lauterer, die damals unter dem, den alle nur den „Chef“ nannten, Dienst taten, der ahnt auch schon, wer der gewesen sein könnte, der da wankte, aber erst nach dem Spiel, keine Sekunde vorher…

 

Ein paar Zeilen später wird es noch klarer:

„Sein Wetter war es nicht, damals, er mochte keinen Regen, und eigentlich mag er ihn auch heute nicht. Aber es war das Wetter von Fritz, dem großen Fritz, dem Rasenprimus, des von allen geliebten Fritz. Es regnete, es war wie die Taufe eines Heiligen, der Chef war zufrieden. Denkt er, zieht den Kragen noch etwas höher und geht weiter.“ Und wohin? In die nächste Kneipe…

DER FRITZ ERÖFFNETE EIN KINO – UND DER WERNER?

Noch Fragen? Na klar: Hier geht es um den, dessen Geschichte den Kontrapunkt bildet zu der des großen Fritz, dem, der nach seinen glanzvollen Jahren ein Kino betrieb, was gerade für Kaiserslautern ja fast schon glamourös war, die anderen Helden übernahmen Toto-Lotto-Annahmestellen oder Tankstellen und waren in den Wirtschaftswunderjahren und danach glücklich bis an ihr Lebensende… Na ja, nicht so ganz, aber so richtig abgestürzt ist nur einer, der hat alles verloren, erst seinen geliebten FCK, dann seinen Job, dann seine Frau und seine Familie.

Werner Kohlmeyer.

Obwohl Holger Dauer ihn in den 166 Seiten seines Romans „Schattenheld“ nie so nennt. Denn er will keine Biografie erzählen, will sich auch Freiheiten erlauben, Fiktives anbieten, wo ihm die Fakten nicht ausreichen. Weil er mehr erzählen will als die belegbare Lebensgeschichte dieses einen unglücklichen Helden von Bern. Im Interview mit der „Allgemeinen Zeitung“ erklärt Dauer: „Grundsätzlich ging es mir um die Frage des Scheiterns. Wie jemand, der ganz oben und Liebling der Massen ist plötzlich vergessen wird, persönlich abstürzt: Alkohol, Arbeitslosigkeit, Ende der Ehe.“

„Journalisten können Fakten erzählen, Schriftsteller erzählen die Wahrheit, und zwar in dem Sinn, dass wir die Möglichkeit haben, ins Innere eines Charakters zu blicken, zu sagen, was er einem Journalisten nie sagen würde, worin aber eine emotionale Wahrheit steckt“, hat der US-amerikanische Bestsellerautor Don Winslow mal der F.A.Z. erklärt. Und eben diese emotionale Wahrheit macht Dauer auf diesen 166 Seiten mit einer bemerkenswerten Intensität und Virtuosität erfahrbar.

EIN LEBEN WIE EIN VERLORENES WOCHENENDE

Sicher, es existieren auch einige wenige, dafür aber gut aufbereitete journalistische Darstellungen über Kohlmeyer, und zwei davon sind im Netz jederzeit greifbar: Die von Axel Raack aus „11Freunde“ etwa oder Hartmut Scherzers Beitrag in der Frankfurter Neuen Presse. Sie beschreiben Kohlmeyers Weg von Bern über Kaiserslautern nach Mainz, wo der Weltmeister in den letzten Jahren seines Lebens zunächst als Platzwart, dann als Pförtner arbeitete, nachdem er zuvor ein paar Jahre sogar in die Obdachlosigkeit abgetaucht war. Sie erzählen die überlieferten Episoden aus seinem Säuferleben, etwa, wie er einst mit seiner WM-Medaille seinen Deckel bezahlte, wie er Sätze sagte wie: „Mit jedem Glas wirst du noch einmal Weltmeister“, aber wie er auch diesen unendlich traurigen Einzeiler von sich gab, der glatt aus dem aus dem gleichnamigen Billy-Wilder-Film stammen könnte, den er ja vielleicht sogar kannte: „Alles, was nach der Weltmeisterschaft kam, war wie ein einziges verlorenes Wochenende.“

Und, wie der DFB ihm endgültig das Herz brach, als er, der Weltmeister von 1954, nach VIP-Karten für ein Länderspiel zur Fußball-WM 1974 fragte, man ihm diese auch schickte, allerdings mit einer Rechnung über 341 D-Mark, die er niemals hätte bezahlen können. Ein paar Tage nach Eintreffen dieses Briefes lag der 50-jährige tot in seiner Wohnung. Herzinfarkt.

Überhaupt entbehrt es nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet und einzig das Internet, das alle für so seelenlos halten, die Erinnerung an Kohlmeyer hochhält. Sein Grab auf dem Lauterer Hauptfriedhof ist längst eingeebnet, und selbst in Sönke Wörtmanns Filmepos „Das Wunder von Bern“ wurde die Szene, in der Kohlmeyer im WM-Endspiel auf der Torlinie rettet und Reporterlegende Herbert Zimmermann ihn als „Mordskerl“ bezeichnet, gestrichen.

DIE EMOTIONALE WAHRHEIT, DIE SO VIEL TIEFER GEHT

Nun also wenigstens Holger Dauers Roman, der im Duotincta-Verlag erschienen ist und nur im „Book on Demand“-Verfahren geordert werden kann, als Ebook gibt es ihn gar nicht. Was zeigt: Ein potenzieller Bestseller, wie Don Winslows Bücher es sind, wird hier nicht erwartet, wie auch. Gerade im Lauterer Fußballanhang dürfte sich kaum eine „Zielgruppe“ finden lassen, der Pfälzer schätzt unvorteilhafte Innenschauen seiner Ikonen wohl noch weniger als Fußballervergötternde anderswo.

Schade eigentlich, denn Dauers „emotionale Wahrheit“ geht unendlich tiefer als jede journalistische Wahrheit, die jemals über Kohlmeyer erzählt wurde. Sie erlaubt es, nicht nur ein paar Tage in der Nähe, sondern sogar im Bewusstsein eines Mannes zu verbringen, der es ebenso wenig wie große Fritz verdient hat, vergessen zu werden:

„Er hatte, wie er glaubte, alles richtig gemacht. Er hatte trainiert, seinen Körper geschunden und seinen Geist auf Eis gelegt, er hatte um die Aufmerksamkeit, um die Anerkennung, um die Liebe der älteren Mitspieler gebuhlt und nie darüber gejammert, dass andere den Ruhm, den ganz großen Ruhm einheimsten. Er hatte seine Arbeit im Büro der großen Spinnerei gewissenhaft erledigt, war morgens pünktlich zur Stelle gewesen und abends manchmal auch etwas länger geblieben. Und zu Hause schnitt er die Hecken, mähte den Rasen und nahm seine Tochter auf den Schoß, wenn man es von ihm verlangte. Was hätte er sonst noch tun sollen? Mehr gab sein Leben nicht her. Immerhin, denkt er, ist er mit seinem Leben Weltmeister geworden. Was konnte er dafür, dass Glück und Erfolg ihm abhandenkamen, ihm unversehens von der Seite wichen und ihrer eigenen Wege gingen? Hätte er ihnen hinterherlaufen sollen? Sie waren nicht mehr einzuholen, sie waren zu schnell, und er war zu langsam geworden. Nur abends, wenn es dunkel geworden war, begegneten sie ihm wieder, ließen sich wieder blicken, an den Theken, den Stammtischen und den Hinterzimmern ungezählter Gaststätten, grinsend, aufgedunsen, zahnlos zuerst, dann aber, mit jedem Schnaps und mit jedem lauten, brüstenden Satz von ihm, immer frischer, strahlender, goldglanzumziert zuletzt…“

SO VIELE ERINNERUNGEN WIE WAHRHEITEN

Es ist das Jahr 1969. Dauers Schattenheld steuert jeden Abend dieselbe Kneipe an, lässt sich Bier und Schnäpse bezahlen, als Gegenleistung offeriert er seinem Publikum die Geschichte des WM-Triumphs, immer und immer wieder, das heißt, er erzählt nicht immer die gleiche Geschichte, manchmal variiert er sie auch, einfach, weil er keine Lust hat, immer das gleiche zu erzählen, manchmal auch, weil seine Zuhörer ein anderes Detail betont haben wollen, oder aber es eben anders erzählt haben wollen, damit es ihrer eigenen Erinnerung entspricht, den schließlich kann es auch verschiedene Erinnerungen an ein und denselben Sachverhalt geben.

Manchmal driftet der Schattenheld auch in Erinnerungen ab, die er nicht mit seinem Publikum teilt. An seine Hochzeit, in der er in einer umgestürzten Kerze doch das schlechte Omen hätte erblicken müssen, dass es schlussendlich doch war, oder an die Massenerschießung, deren Zeuge er als Soldat im Zweiten Weltkrieg wurde. Eine der Episoden übrigens, die Dauer erfunden hat, belegbar ist lediglich, dass Kohlmeyer der Wehrmacht im Sudetenland diente. Dass ihn auch Kriegstraumata geprägt haben und für seinen Absturz mitverantwortlich gewesen waren, könnte durchaus eine der Wahrheiten sein, die der Schriftsteller dem Journalisten voraus hat.

Einmal erinnert sich der Schattenheld ein Benefizspiel, zu dem sich die Helden von Bern 1968 in Braunschweig noch einmal trafen, und in den Szenen, in denen etwa „Boss“ Rahn beim Spiel nicht mehr auf den Ball an seinen Füßen sieht, weil seine Wampe ihm die Sicht versperrt, und die anderen Helden, die richtigen, nach Luft japsen, weil sie ihrem voranschreitenden Alter nicht trotzen können, schimmert der warmherzige Humor durch, mit dem Dauer seine Bilder trotz aller Melancholie zeichnet. Auch wenn gleich darauf die Rede davon ist, dass der Schattenheld bei diesem Treffen gerne mal mit denen geredet hätte, bei denen es auch nicht gut gelaufen ist zuletzt, der „Ottes“ zum Beispiel soll sogar versucht haben, sich umzubringen… Doch leider kommt es zwischen den so oft propagierten „elf Freunden“ nur zum Austausch von Floskeln.

VOR ALLEM AUCH EIN ZEITPORTRÄT

Vor allem ist der „Schattenheld“ auch ein Porträt der frühen Bundesrepublik in den 1950er und 1960er Jahren, deren nierentischgeprägte Miefigkeit dem heutigen Leser vielleicht gerade noch so aus seiner Jugendzeit vertraut ist, in den Erinnerungen an seine Väter und Großväter. Und er lässt feinfühlig, untermalt mit deutschen Schlagertiteln aus der frühen Dieter Thomas Heck-Ära und sinnigen Werbesprüchen der Zeit, die holzig heimelige Atmosphäre der Kneipen und Sportheime wieder auferstehen, die es so heute auch kaum noch gibt. Waren diese wirklich unwürdig als letzte Zufluchtsstätte für einen Weltmeister, der den Halt verloren hatte? Heute würde einer wie Kohlmeyer im „Dschungelcamp“ oder im „Promi-Big Brother“-Container landen, wäre ihm das denn zu wünschen?

„Die Erinnerung macht die Gegenwart erträglich und zerstört sie zugleich. Von der Zukunft, denkt er, will ich gar nicht erst reden. Die hat auch nicht mehr zu bieten als eine flüchtende Gegenwart, die unter der Last einer noch gewordenen, einer immer größer, üppiger werdenden Vergangenheit ächzt und stöhnt. An so viel Erinnerung ist wirklich schwer zu tragen, denkt er. Sie wiegt so unendlich viel, sie drückt ihn nieder, macht ihn, den kleinen Mann, noch kleiner, noch gedrungener. Dann lieber Lastenträger, Vergangenheitsschlepper. Leben ohne Erinnerung, ohne diese eine große Erinnerung, das wäre wie Atmen im luftleeren Raum, wie Fußballspielen ohne Ball und ohne Tor. Oder, denkt er und schaut sich um, wie ein Kneipengang ohne Schnaps und ohne Bier.“

Am Ende lässt Dauer seinen Schattenhelden wieder da verschwinden, wo er hergekommen ist: im Regen. Den der große Fritz so geliebt hat. Er aber nicht.

erschienen auf "blogvierzwei.de" am 27.9.2016

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